Symptome
Die Symptomatik der ADHS zeigt sich über die Lebensspanne hinweg sehr variabel, folgt aber in den gängigen Klassifikationssystemen DSM-5-TR und ICD-11 einem gemeinsamen Kern aus zwei Hauptdomänen Unaufmerksamkeit sowie Hyperaktivität und Impulsivität.[1]
Diagnostische Systeme (DSM-5-TR und ICD-11)
DSM-5-TR
Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage, Textrevision (DSM-5-TR), wird ADHS im Kapitel der neurodevelopmental disorders eingeordnet.[2] Die Diagnose beruht auf einem anhaltenden Muster von Unaufmerksamkeit und oder Hyperaktivität und Impulsivität, das
- seit mindestens sechs Monaten besteht
- in einem dem Entwicklungsstand deutlich unangemessenen Ausmaß auftritt
- zu klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen führt
- nicht besser durch andere psychische Störungen oder ausschließlich durch eine psychotische Störung erklärt wird.[2][1]
DSM-5-TR listet jeweils neun Symptome der Unaufmerksamkeit und neun Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität auf. Für Kinder und Jugendliche müssen mindestens sechs Symptome in einer oder beiden Domänen erfüllt sein, für Erwachsene ab 17 Jahren mindestens fünf Symptome.[2] Beispiele für Kriterien der Unaufmerksamkeit sind Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über längere Zeit bei Aufgaben aufrechtzuerhalten, häufiges Verlieren von Gegenständen, ausgeprägte Vergesslichkeit im Alltag und das Vermeiden länger andauernder geistiger Anstrengung. Kriterien der Hyperaktivität und Impulsivität umfassen motorische Unruhe, Schwierigkeiten, ruhig zu sitzen, vermehrtes Reden, das Hineinplatzen in Gespräche sowie Probleme, abzuwarten, bis man an der Reihe ist.[2][1]
DSM-5-TR unterscheidet drei Präsentationen, die sich nach dem aktuell vorherrschenden Symptombild richten:
- vorwiegend unaufmerksame Präsentation
- vorwiegend hyperaktiv-impulsive Präsentation
- kombinierte Präsentation.[2]
Zusätzlich werden Schweregrade (leicht, mittel, schwer) und der Status in teilweiser Remission kodiert, die sich am Ausmaß der Symptome und der funktionellen Beeinträchtigungen orientieren.[3] Im Vergleich zum DSM-5 wurden in DSM-5-TR die ADHS-Kriterien selbst nicht grundlegend verändert, sondern textliche Erläuterungen zu Prävalenz, Verlauf und Differenzialdiagnostik aktualisiert.[4]
ICD-11
In der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation ist ADHS im Kapitel der neurodevelopmental disorders unter dem Code 6A05 als attention deficit hyperactivity disorder klassifiziert.[5] Die ICD-11 beschreibt ADHS als ein Muster von Entwicklungsschwierigkeiten, das durch anhaltende Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und Impulsivität mit frühem Beginn gekennzeichnet ist, deutlich über das für Alter und Intelligenzniveau zu Erwartende hinausgeht und zu einer spürbaren Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen führt.[5][6]
Wesentliche diagnostische Anforderungen der ICD-11 sind:
- ein Beginn der Symptomatik in der Kindheit, typischerweise vor dem zwölften Lebensjahr
- eine Dauer von mindestens sechs Monaten
- das Vorliegen der Symptome in mehr als einem Lebensbereich
Die ICD-11 benennt, ähnlich wie DSM-5-TR, die beiden Kernsymptomdomänen Unaufmerksamkeit sowie Hyperaktivität und Impulsivität, legt aber keine festen numerischen Schwellenwerte für die Anzahl der Symptome fest. Stattdessen wird betont, dass mehrere Symptome aus einer oder beiden Domänen in einem Ausmaß vorliegen müssen, das deutlich über die altersentsprechende Variation hinausgeht. Die ICD-11 kodiert unterschiedliche Präsentationen mit eigenen Unterkodes:
- 6A05.0 vorwiegend unaufmerksame Präsentation
- 6A05.1 vorwiegend hyperaktiv-impulsive Präsentation
Gegenüberstellung von DSM-5-TR und ICD-11
Beide Systeme verstehen ADHS als neuroentwicklungsbedingte Störung mit Beginn in der Kindheit, die durch Unaufmerksamkeit sowie Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet ist, in mehreren Lebensbereichen auftreten muss und zu bedeutsamer funktioneller Beeinträchtigung führt.[8][6]
Zentrale Gemeinsamkeiten sind:
- zwei Kernsymptomdomänen Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und Impulsivität
- Mindestdauer der Symptomatik von sechs Monaten
- Nachweis eines frühen Beginns vor dem zwölften Lebensjahr
- die Forderung nach Symptomen in mehreren Kontexten
- Wichtige Unterschiede betreffen vor allem die Operationalisierung
DSM-5-TR listet je neun Symptome pro Domäne, ICD-11 verfügt über etwas umfangreichere Symptomlisten mit elf Merkmalen für Unaufmerksamkeit und elf für Hyperaktivität und Impulsivität, da einige DSM-5-TR-Kriterien in ICD-11 feiner aufgeteilt werden.[4]
DSM-5-TR arbeitet mit festen Grenzwerten für die Anzahl erfüllter Symptome, die für Erwachsene abgesenkt sind, während ICD-11 stärker auf klinischer Beurteilung der Schwere und funktionellen Auswirkungen beruht, ohne eine exakte Mindestanzahl festzulegen.[4][6]
DSM-5-TR formuliert die Kriterien primär in verhaltensnaher Sprache, ICD-11 ergänzt diese Beschreibung systematisch um Kontextbedingungen und typische Entwicklungskonstellationen im Sinne der ICD-11-weit verwendeten klinischen Beschreibungslogik.[5][7]
In der Praxis führt dies dazu, dass DSM-5-TR eine vergleichsweise standardisierte, symptomzählende Diagnostik unterstützt, während ICD-11 den diagnostischen Entscheidungsraum stärker an funktionelle Beeinträchtigungen und klinische Kontextfaktoren bindet. Beide Systeme sind jedoch hinreichend ähnlich, um in epidemiologischen Studien vergleichbare Prävalenzschätzungen zu ermöglichen, wenn die Operationalisierung sorgfältig vorgenommen wird.[8][4]
Kernsymptomdomänen
Unaufmerksamkeit
Die Domäne der Unaufmerksamkeit umfasst nach DSM-5-TR und ICD-11 eine Reihe von Symptomen, die sich in Defiziten der Aufrechterhaltung und Steuerung der Aufmerksamkeit, der Organisation von Handlungen sowie der Nutzung exekutiver Funktionen zeigen.[2][5] Typische Verhaltensweisen sind
- leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize oder eigene Gedanken
- Schwierigkeiten, längere Zeit bei Aufgaben, Gesprächen oder beim Lesen aufmerksam zu bleiben
- Fehler durch mangelnde Sorgfalt, etwa Flüchtigkeitsfehler in Schule, Ausbildung oder Beruf
- Probleme, Aufgaben und Aktivitäten zu planen und zu organisieren, etwa unübersichtliche Arbeitsweisen, Aufschieben und häufige Abbrüche
- häufiges Verlieren von Gegenständen, die für Aufgaben notwendig sind
Im Kindesalter äußert sich dies beispielsweise in einer geringen Ausdauer bei Hausaufgaben und Spielen sowie dem Eindruck, Anweisungen würden nicht zu Ende gehört. Im Jugend- und Erwachsenenalter treten eher chronische Desorganisation, Probleme im Zeitmanagement, Übersehen von Terminen und eine geringe Verlässlichkeit in der Umsetzung von Aufgaben in den Vordergrund.[9]
Hyperaktivität und Impulsivität
Die zweite Symptomdomäne umfasst motorische Unruhe und Impulsivität im Verhalten und in der Entscheidungsfindung.[2][5] Typische Merkmale sind
- ausgeprägte motorische Ungeduld, etwa Zappeln mit Händen oder Füßen und Schwierigkeiten, ruhig zu sitzen
- ein inneres Getriebensein mit dem Drang, sich ständig zu bewegen
- Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich ruhig zu beschäftigen
- vermehrtes und oft dominierendes Reden
- impulsive Antworten, bevor Fragen vollständig gestellt sind
- Probleme, abzuwarten, bis man an der Reihe ist, etwa in Gesprächen, in Warteschlangen oder im Straßenverkehr
- das Unterbrechen und Stören anderer Personen, etwa durch Hineinplatzen in Gespräche oder Aktivitäten.[8][1]
Im Verlauf der Entwicklung verschiebt sich die Ausprägung von Hyperaktivität häufig. Bei jüngeren Kindern zeigt sie sich eher als überschießende motorische Aktivität, während bei Jugendlichen und Erwachsenen innere Unruhe, Entscheidungsimpulsivität, Redeimpulsivität und riskante Verhaltensweisen in den Vordergrund treten.[9][3]
Zusätzliche symptomatische Aspekte
Sowohl DSM-5-TR als auch ICD-11 beschreiben neben den Kernsymptomen weitere häufige Merkmalsbereiche, die nicht zu den formalen Diagnosekriterien gehören, in der klinischen Praxis aber bedeutsam sind. Dazu zählen insbesondere:
- emotionale Dysregulation mit Reizbarkeit, niedriger Frustrationstoleranz und raschen Stimmungswechseln
- Defizite in exekutiven Funktionen wie Planung, Arbeitsgedächtnis, Initiierung und Abschluss von Aufgaben
Emotional dysregulation wird in der aktuellen Forschung eng mit den klassischen Symptomen verknüpft und steht mit stärkerer Beeinträchtigung, höherer Komorbiditätsrate und einem ungünstigeren Verlauf in Zusammenhang, obwohl sie in DSM-5-TR und ICD-11 nicht als eigenständiges Kernkriterium verankert ist.[10]
Entwicklungsbezogene Veränderungen der Symptomatik
Langzeitstudien zeigen, dass sich die Symptomatik von ADHS im Laufe des Lebens verändert, ohne dass die Störung notwendigerweise vollständig remittiert.[9][8] Motorische Hyperaktivität nimmt im Durchschnitt eher ab, während innere Unruhe, Impulsivität und Desorganisation relativ stabil bleiben oder sich in andere Funktionsbereiche verlagern. Unaufmerksamkeit bleibt bei einem großen Teil der Betroffenen in Schule, Ausbildung und Beruf ein zentrales Problem und ist im Erwachsenenalter häufig der klinisch dominierende Symptomkomplex.[3][11]
Im Kindesalter stehen oft schulische Leistungsprobleme, Konflikte in der Familie und im Peerkontext im Vordergrund. Im Jugendalter treten zusätzlich riskante Verhaltensweisen, emotionale Instabilität und ein erhöhtes Risiko für Substanzkonsum auf. Im Erwachsenenalter äußert sich die Symptomatik eher als chronische Überforderung im Berufsalltag, instabile Erwerbsbiografien, Konflikte in Partnerschaften und Schwierigkeiten, alltägliche Pflichten verlässlich zu erfüllen.[9][3]
Klinische Implikationen der unterschiedlichen Klassifikationen
Die DSM-5-TR-Kriterien erleichtern durch ihre klare Symptomzählung die Standardisierung von Diagnostik und Forschung, können aber in Grenzfällen dazu führen, dass leichte Ausprägungen mit hoher funktioneller Belastung übersehen oder sehr variable Verläufe nur unzureichend abgebildet werden.[1][4] Die ICD-11-Konzeption betont stärker die klinische Beurteilung von Schweregrad, Kontext und funktionaler Beeinträchtigung, was eine größere Flexibilität erlaubt, aber höhere Anforderungen an diagnostische Erfahrung und differenzialdiagnostische Abwägung stellt.[6][7]
In beiden Systemen bleibt die genaue Erfassung der Symptomatik in verschiedenen Lebensbereichen und über die Lebensspanne hinweg zentral. Dies erfordert strukturierte Anamnesen mit Bezugspersonen, standardisierte Fragebögen und gegebenenfalls neuropsychologische Zusatzuntersuchungen, um ADHS von anderen Störungsbildern mit ähnlichen Symptomen zu unterscheiden.[1][8]
Literatur
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- ↑ 10,0 10,1 Faraone, S. V., Rostain, A. L., Blader, J., Busch, B., Childress, A. C., Connor, D. F., & Newcorn, J. H. (2019). Practitioner Review Emotional dysregulation in attention deficit hyperactivity disorder implications for clinical recognition and intervention. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 60(2), 133–150. https://doi.org/10.1111/jcpp.12899
- ↑ Hinshaw, S. P. (2017). Attention deficit hyperactivity disorder. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 59(1), 65–89. https://doi.org/10.1111/jcpp.12873